Nachhaltige Desinfektionsmittel aus Pflanzen
WirtschaftsförderungForschungsprojekt mit neuen Ansätzen zur schonenden Desinfektion
„Schwerer Unfall: Frau verbrennt sich mit Desinfektionsmittel“, „Zahl der Unfälle mit Desinfektionsmitteln steigt an“, „Arbeitsunfall: Desinfektionsmittel spritzte Landwirt ins Gesicht“ – immer wieder finden Meldungen über Unfälle mit Desinfektionsmitteln den Weg in die Medien.
Was der Lebensmittelsicherheit und Hygiene nützt, hat Schattenseiten. Denn die zum Teil aggressiven Mittel können bei Missgeschicken Schäden an Haut, Schleimhaut und Augen hervorrufen. Zudem entstehen bei der Herstellung von desinfizierenden Lösungen zum Teil schädigende Substanzen und Rückstände aus der Anwendung gelangen mit dem Abwasser in die Umwelt.
„In den letzten 20 Jahren hat die Verwendung von Desinfektionsmitteln massiv zugenommen – auch ohne die Zusatzeffekte durch die Pandemie“, weiß Ralf Ohlmann, wissenschaftlicher Forschungsleiter des Just in Air Luft- & Hygienefachinstituts in Bremen sowie Leiter der BWA Bundesfachkommission Lebensmittelsicherheit & Lebensmittelhandel in Berlin. Besonders in der Lebensmittelindustrie würden immer schärfere Vorgaben den Einsatz von Desinfektionsmitteln in immer größeren Mengen erfordern, so seine Erfahrung aus den vergangenen Jahren.
Fachmann für den Kampf gegen Mikroorganismen
Der Bremer Hygieneforscher ist überall dort ein gefragter Mann, wo es darum geht, Oberflächen oder Räume von Bakterien, Viren oder Mikroorganismen zu befreien. Während der Ebola-Epidemie von 2014 wurde er konsultiert, regelmäßig hält er Vorträge auf Fachkonferenzen oder bei Lebensmittelkonzernen, in Fachmedien ist er gern gesehener Interviewgast. Mit seinem Unternehmen Just in Air ist er seit dem Jahr 2004 selbstständig. Er plant unter anderem Lüftungsanlagen und berät im Hygienemanagement für die Lebensmittelherstellung, aber auch im Gesundheitswesen und für öffentliche Bereiche.
Als Lebensmitteltechnologe und Mediziner befasst er sich seit vielen Jahrzehnten mit Hygienethemen. „Ich habe ein Faible dafür, alles zu hinterfragen, habe mich schon früh mit Nachhaltigkeit beschäftigt und der Frage, wie man die Welt im Kleinen besser machen kann“, sagt er von sich.
Kann man aus Pflanzen Desinfektionsmittel herstellen?
„Mich hat interessiert, ob es nicht Wege gibt, wie wir auf diese aggressiven Chemikalien verzichten können, aber die desinfizierende Wirkung erhalten. Und da bin ich auf die natürlichen Schutzmechanismen von Pflanzen gekommen“, erklärt er.
Denn: Auch Pflanzen können von Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen wie Pilzen angegriffen werden. In ihrer Evolution haben sie Abwehrmechanismen dagegen entwickelt. Und die will sich Ohlmann jetzt zunutze machen.
Dem Geheimnis der Pflanzen auf der Spur
„In unserem Forschungsprojekt haben wir Pflanzenextrakte – Phytoextrakte – gefunden mit antibakteriellen Eigenschaften. Sie helfen den Pflanzen, sich vor Mikroorganismen zu schützen“, klärt er auf. Aus ihnen will er ein potentes Desinfektionsmittel machen.
Dazu hat er sich mit Prof. Dr. Nikolai Kuhnert, Prof. Dr. Matthias Ullrich und dem Doktoranten James Ziemah von der Bremer Jacobs University sowie dem Bremer Hygienespezialisten ProPure Protect GmbH um Lothar Sause zusammengetan. „Dieser Schulterschluss aus Industrie und Forschung war sehr wichtig, um das relevante Know-how im Bereich von Physik, Chemie und Biologie zusammenzutragen“, führt Ohlmann aus.
Die Stoffe mit desinfizierender Wirkung in den Pflanzen zu identifizieren, war die eine Sache. Eine zweite Hürde im Forschungsprojekt „BioActPhyto“ war es, diese Stoffe für die industrielle Anwendung nutzbar zu machen. In ihrer Grundform sind die Pflanzenextrakte hydrophob, sie lassen sich nicht mit Wasser vermischen. Das ist aber eine wichtige Eigenschaft, um sie später in eine Desinfektionsflüssigkeit umwandeln zu können. „Hier kam uns das Forschungswissen aller Partner zugute. Wir konnten ein Verfahren identifizieren, was die zuvor selektierten Extrakte nanoisiert, also in sehr kleine Bestandteile aufbricht, die wiederum hydrophil sind, sich also mit Wasser vermischen lassen“, erklärt der Hygieneprofi.
Erfolgreiche Demonstration des Verfahrens
Nach zwei Jahren Forschung ist es dem Team zum Projektabschluss Mitte 2022 gelungen, das Desinfektionsmittel basierend auf Pflanzenextrakten im Labormaßstab herzustellen. Dabei zeige es eine sehr gute Wirkung gegenüber typischen Keimen aus der Lebensmittelindustrie, wie etwa Listerien oder E-Coli, sagt Ohlmann. „Wir waren selbst überrascht von der weitreichenden Wirkung. Die Vorteile liegen auf der Hand: Bei der Herstellung entstehen keine schädigenden Substanzen, die Anwendung ist ungefährlich und weder auf Lebensmitteln noch im Abwasser lassen sich schädigende Rückstände finden“, erläutert er.
Die Extrakte können dabei aus vielen Arten von Pflanzen gewonnen werden, ideal eignen sich laut Ohlmann Pflanzenabfälle, zum Beispiel aus der Kaffee- oder Bierproduktion oder der Saftindustrie. Damit würde das Desinfektionsmittel auch zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft beitragen.
Ende des Forschungsprojekts ist erst der Anfang
Möglich wurde das zweijährige Forschungsprojekt BioActPhyto durch eine Förderung durch die Europäische Union mit EFRE-Mitteln sowie durch das Land Bremen im Förderprogramm „PFAU – Programm zur Förderung anwendungsnaher Umwelttechniken“, das durch die BAB – Die Förderbank für Bremen und Bremerhaven umgesetzt wird. „Ein Produkt mit positiven Eigenschaften, das auf unnötige Chemikalien verzichtet und nachhaltig produziert wird – eine wunderbare Erfindung aus Bremen. Sie zeigt zudem, wie wichtig die Verbindung aus Wissenschaft und Wirtschaft ist – gemeinsam entsteht Neues. Das unterstützen wir gerne“, so Dr. Alla Kress von der BAB.
Für Ralf Ohlmann und das gesamten Forschungsteam geht es jetzt in die nächste Phase: „Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit, wir müssen das Produkt vom Labor in die Industrie bringen.“ Eine Herausforderung: Einerseits müssen sie die großtechnische Herstellung realisieren und andererseits die offizielle Zulassung als Desinfektionsmittel im Lebensmittelbereich erhalten.
Dabei wird sich Ohlmann selbst langsam aus dem operativen Geschäft ein wenig zurücknehmen. Nach langen Jahren in der Industrie gilt mit jenseits der 60 sein Interesse derzeit der Forschung. „Ich sehe mich als Wissenschaftler, der einmal als reiner Unternehmer anfing und auf das Wissen beider Welten zurückgreifen kann. Diesen Erfahrungsschatz möchte ich natürlich gern weitergeben und freue mich, wenn es zu solchen Erfindungen `Made in Bremen` führt.“
Es wird also bestimmt nicht das letzte Mal sein, dass der Hygieneexperte aus der Hansestadt von sich reden macht. „Ich bin ein Wühler. Wenn es irgendwo um Bakterien und Viren geht, dann bin ich da“, schließt er.
Das Programm zur Förderung anwendungsnaher Umwelttechniken (PFAU) wird von der Bremer Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau sowie aus den Mitteln des EFRE - Europäischer Fonds für regionale Entwicklung gefördert und von der BAB – Die Förderbank für Bremen und Bremerhaven umgesetzt.
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